SIBYLLE-RIED-PREIS

Sibylle_Ried-Preisträger 2013
Sibylle-Ried-Preisträger 2013:
Kristin Nahrmann
Filmplakat
Sibylle-Ried-Preisträger 2013:
Emrah Turan (Produzent, li.), Kristin Nahrmann (re.)

SIBYLLE-RIED-PREIS – Preisträger:in 2013

Der SIBYLLE-RIED-PREIS 2013 wurde verliehen an

Kristin Nahrmann, Youth on the Move Germany

für den Dokumentarfilm „Es gibt nur ein Ich und im Ich verweilt meine Seele“

Sehr geehrte Damen und Herren, liebe Kolleginnen und Kollegen, liebe Frau Nahrmann

Auch im Namen der anderen Mitglieder des Preisrichterkollegiums, Frau Ingrid Coban aus Bielefeld und Herrn Gerd Heinen aus Berlin sowie in beratender Funktion Herrn Dr. Matthias Ried, dem Bruder der Namensgeberin des Preises, und natürlich auch der Stiftung Michael, die den Preis seit vielen Jahren dankenswerterweise unter ihr Dach genommen hat, freue ich mich sehr, Frau Kristin Nahrmann und dem 2012 gegründeten Selbsthilfeverein Youth on the move (YotM) Germany e.V. den Sibylle Ried Preis 2013 überreichen zu dürfen.

Der seit 2001 hiermit zum sechsten Mal vergebene Preis ist mit 2.500 € dotiert, darüber hinaus erhalten die ausgezeichneten Personen eine Urkunde. Das Preisgeld wird durch Zinserträge der Sibylle-Ried-Zustiftung bei der Stiftung Michael zur Verfügung gestellt, zu der neben verschiedenen Pharmafirmen auch der frühere Blackwell Wissenschafts-Verlag (der „Haus“-Verlag von Frau Ried), die Familie Ried und andere Privatpersonen sowie die Stiftung Michael beigetragen haben. Er wurde erstmals 2001 und seitdem alle zwei Jahre anlässlich der gemeinsamen Jahrestagungen der Deutschen und Österreichischen Gesellschaften für Epileptologie und Schweizerischen Liga gegen Epilepsie vergeben. Er richtet sich an alle Berufsgruppen und alle Formen von Publikationen, dokumentierten Aktivitäten und Methoden, deren Ziel eine Verbesserung der Betreuung von Menschen mit Epilepsie und ihrer Lebensbedingungen ist1,2. Bis zur Vergabe 2011 bestand das stimmberechtigte Preisrichterkollegium aus Frau Gisela Schüler, Herrn Rupprecht Thorbecke und mir.

Wie die allermeisten von Ihnen wissen, ist der Preis nach der viel zu früh verstorbenen Epileptologin Sibylle Ried (29.8.1956 – 14.6.2000) benannt und wurde von mir kurz nach deren Tod ins Leben gerufen. Manche von Ihnen werden sich noch an die 40. deutsche Ligatagung in Heringsdorf vom 15. bis 18. Juni 2000 erinnern, wo ich ihren plötzlichen und tragischen Tod am 14. Juni 2000 im Alter von nur 43 Jahren aufgrund einer – eigentlich vermeidbaren – Lungenembolie bekanntgeben musste. Alle die wie ich die Gelegenheit hatten sie näher kennenzulernen werden mir zustimmen, dass es wenige vergleichbar dynamische Persönlichkeiten auf unserm Fachgebiet gab und gibt, speziell in dem Bereich der sozialmedizinische Aspekte.

Frau Ried hatte ihre Facharztweiterbildung in Neurologie und Psychiatrie in München und Berlin absolviert und war ab 1995 Oberärztin sowie ab 1997 Leitende Ärztin am Schweizerischen Epilepsie-Zentrum in Zürich. Sie hat neben ihrer stets bis in die Abendstunden gehenden klinischen Tätigkeit und per Weitergabe ihrer Handynummer an viele Patienten auch ausdrücklich gewollten permanenten Erreichbarkeit auch die Zeit gefunden, zahlreiche Artikel sowie mehrere Bücher sowohl für Laien als auch Fachleute zu schreiben. Hier sei an das zusammen mit Gertrud Beck-Mannagetta verfasste Buch „Epilepsie und Kinderwunsch“5 erinnert, das in kurzer Zeit drei deutsche Auflagen erlebte und auch ins Englische übersetzt wurde. Der Titel des gemeinsam mit Gisela Schüler verfassten Patientenbuches „Vom Anfall bis zur Zusammenarbeit“6 entsprach dem tagtäglich praktizierten Motto ihrer Arbeitsweise. Neben ihren Patiententagebüchern7,8 hat ihr ganz besonders das MOSES-Schulungsprogramm9,10 am Herzen gelegen, das sie initiiert und ermöglicht hat. Ich erinnere mich noch gut an die Planungsphase, als sie mir erzählte, sie müsse jetzt mal kurz nach Deutschland zu einer Pharmafirma fliegen, um mehrere hunderttausend – damals noch Deutsche Mark – lockerzumachen. Ich muss gestehen, dass ich mehr als skeptisch war, aber sie hat es geschafft. Sie würde sich auch sehr darüber freuen, dass eine MOSES-Schulung inzwischen von den deutschen Krankenkassen finanziert wird11, was von ihr immer als mittelfristig zu erreichendes Ziel propagiert worden war.

 

Nun aber zu der diesjährigen Preisträgerin beziehungsweise dem von ihr vertretenen Projekt. Bei einer größeren Zahl von Bewerbungen gab es durchaus mehrere preiswürdige, was uns die Wahl nicht erleichtert hat. Nach eingehender Diskussion waren wir uns aber einig. Bei unserem diesjährigen Preisträger bzw. ausgezeichneten Projekt handelt es sich um den Film

Youth on the move Germany
Es gibt nur ein Ich und im Ich verweilt meine Seele.

Youth on the move (YotM) Germany e.V. (emPOWER talents with epilepsy) ist ein unter dem Dach des 2006 in den Niederlanden gegründeten Vereins Youth on the move (YotM) im Frühjahr 2012 in Bielefeld von einer Gruppe junger Menschen mit Epilepsie gegründeter unabhängig agierender Selbsthilfeverein. Er steht bundesweit allen Jugendlichen und jungen Menschen mit Epilepsie offen, die trotz ihrer Epilepsie ein selbständiges und aktives Leben führen, die eine Ausbildung suchen oder begonnen haben, studieren oder sich bereits im Berufsleben befinden12-14. Neben regelmäßigen Treffen (jeweils im Frühjahr und Herbst im Epilepsiezentrum Bielefeld) möchte die Gruppe durch Öffentlichkeitsarbeit insbesondere mit Filmen, in denen junge Menschen zu Wort kommen, über Epilepsie aufklären und die mediale Öffentlichkeit nutzen, um

  • sich gegen Vorurteile und Stigmatisierung zu wehren,
  • zu zeigen, das ein „normales Leben“ mit einer Epilepsie möglich ist und
  • anderen jungen Betroffenen und ihren Angehörigen Mut, Motivation und Unterstützung in der Krankheitsbewältigung zu geben.

Der von uns ausgezeichnete Film ist aus verschiedenen Perspektiven eine Neuheit: Anhand eines thematischen Leifadens „outen“ sich jeweils drei epilepsiekranke junge Erwachsene aus Deutschland und der Türkei mit sehr persönlichen, authentischen Erfahrungsberichten und hohem Praxisbezug. Diese interkulturellen Berichte werden durch Interviews mit einem deutschen und einem türkischen Arzt zur Behandlungs- und Lebenssituation in den betreffenden Ländern ergänzt, wodurch der Film über die Betroffenenperspektive hinaus auch die interkulturelle Sicht von Ärzten auf die Behandlung integriert. Dabei wird deutlich, dass Epilepsie in der Türkei im Vergleich zu Deutschland noch sehr viel mehr Stigmatisierungspotential hat. Die Zweisprachigkeit des Films ermöglicht eine breite Verteilung, zumal es gerade auch für türkischstämmige Menschen mit Epilepsie und ihre Angehörigen bisher wenig krankheitsspezifisches Material gibt.

Youth on the Move Germany ist zudem eine „neue Generation“ von Selbsthilfe mit neuen Austausch- und Kommunikationswegen. Ausgehend von Kontakten in sozialen Netzwerken entstand der Wunsch nach persönlichen Treffen, die zweimal jährlich durchgeführt werden und in deren Rahmen auch die Idee zu diesem Film entstand. Die internationale Ausrichtung ergab sich früh durch multikulturelle Mitglieder, aber auch durch Kontakte zu Betroffenen in anderen Ländern (derzeit neben der Türkei vor allem die Niederlande und Kenia). Der erste und von uns ausgezeichnete Film (Trailer: www.payizfilm.com) widmet sich sechs jungen Erwachsenen mit Epilepsie aus Deutschland und der Türkei, die von ihrem Leben und ihrem Umgang mit Epilepsie berichten, in einem zweiten geplanten Film möchte die Gruppe zeigen, wie junge Menschen aus Kenia mit der Krankheit Epilepsie leben.

Die Priorität für Youth on the Move Germany e.V. bei der Preisvergabe ergab sich neben der „Neuheit“ des Projektes insbesondere aus der Eigeninitiative mit dem Mut, dieses Projekt zu gestalten, durchzuführen und sich über das Medium Film einer großen Öffentlichkeit zu präsentieren. Eine der Protagonistinnen ist vier Wochen nach Abschluss der Dreharbeiten verstorben, vermutlich im Rahmen eines nächtlichen Anfalles. Die Weiterführung des Projektes und Veröffentlichung in der geplanten Form mit all den Erinnerungen und daraus entstandenen persönlichen Ängsten und Diskussionen bewerten wir hoch.

Insgesamt geht es bei dem Filmprojekt im Sinne der Internationalen Klassifikation der Funktionsfähigkeit, Behinderung und Gesundheit der WHO um Teilhabe und um die Frage, wie eine chronisch erhöhte Anfallsbereitschaft bzw. eine Epilepsie ins Leben integriert werden kann und wie eine Teilhabe durch Stigmatisierungsprozesse behindert wird. Das den Film begleitende Faltblatt ist prägnant formuliert und verdeutlicht das Anliegen des Films, die subjektive, durch die jeweilige Kultur geprägte Sichtweise auf die Krankheit deutlich zu machen. Das Ziel der Initiative wird im Film didaktisch sehr gut umgesetzt. Er ermöglicht Einblicke in die subjektive Sichtweise, und die Offenheit der Protagonisten ist beispielhaft und mutig. Sprache und Darstellung knüpfen dort an, wo Menschen mit Epilepsie Fragen an sich selbst, an ihre Zukunft und an ihr Leben mit der Krankheit stellen. Da viele Menschen mit Epilepsie berichten, dass die sozialen Auswirkungen der Krankheit die Einschränkungen durch die eigentlichen Anfälle überwiegen, ist die Bedeutung des Films auch in Zusammenhang mit therapeutischen Prozessen sehr groß.

Es handelt es sich um ein rein ehrenamtliches, mit sehr viel Eigeninitiative verbundenes Projekt einer Gruppe junger Menschen mit Epilepsie; dies ist gelebtes Empowerment und die Preisvergabe erfolgt mit absoluter Gewissheit im Sinne von Sibylle Ried!

Herzlichen Glückwunsch!

STIFTUNG MICHAEL

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